Wo ist Dein Lambarene?

Als ein Unbekannter und Namenloser kommt Jesus zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach!... und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist. ...[1]

 

Liebe Gemeinde!

Diese Worte sind das persönliche Glaubensbekenntnis von Albert Schweitzer.[2] Es sind die Schlussworte seines vielleicht wichtigsten theologischen Buches, der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung.“ Er hat diesen Text als 30 jähriger junger Mann geschrieben im August oder September 1905, kurz nachdem er sich entschieden hatte, nach Lambarene zu gehen. Neun Jahre vorher, an Pfingsten 1896, macht sich der damals 21 jährige Albert Schweitzer verstärkt Gedanken um den Sinn seines Lebens und entschließt sich an jenem Pfingstmorgen bis zu seinem 30. Lebensjahr seine beiden Studienfächer Theologie und Philosophie sehr intensiv zu studieren sowie sein Orgelspiel zu vervollkommnen und dann ab seinem 30. Lebensjahr einen Beruf zu ergreifen, bei dem er anderen Menschen direkt hilft. Was das sein würde, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Er hat dann schon vor seinem 30. Lebensjahr angefangen, sich in Straßburg um Obdachlose und verwahrloste Jugendliche zu kümmern, allerdings mit relativ wenig Erfolg. Dann, im Herbst 1904 liest er in einem Berichtsheft der Pariser Evangelischen Missionsgesellschaft einen Artikel mit der Überschrift „Was der Kongo-Mission Not tut.“ In diesem Artikel wurde die Not im Norden von Französisch Kongo beschrieben und dass es der Missionsgesellschaft an Leuten fehlte, die dieser Not etwas entgegensetzen könnten. Das Lesen dieses Textes war für Albert Schweitzer Ausgangspunkt einer Entwicklung, die ein dreiviertel Jahr später, am 9. Juli 1905 in einem Bewerbungsschreiben an Direktor Boegner von der Pariser Evangelischen Missionsgesellschaft mündete. In diesem Brief schreibt Albert Schweitzer u.a.: „Ja, ich habe alles gekannt, die Wissenschaft, die Kunst, die Freuden der Wissenschaft, die Freuden der Kunst, ich kenne das erhebende Gefühl des Erfolgs und mit wahrem Stolz habe ich meine Antrittsvorlesung mit 27 Jahren gehalten. Aber das alles hat meinen Durst nicht gestillt; ich fühle, dass das nicht alles ist ...Ich habe  immer klarer erkannt, dass die einzige Wahrheit und das einzige Glück darin besteht, unserem Herrn Jesus Christus dort zu dienen, wo er uns braucht.“[3] Am selben Tag schreibt Albert Schweitzer spät abends noch einen Brief an seine spätere Frau Helene. Darin heißt es u.a.: „Ich gehe dort hin, um bei Jesus zu sein. ... Ich werde ihn finden, das weiß ich.“[4] In den nächsten Wochen wartet Albert Schweitzer sehnsüchtig auf ein Antwortschreiben aus Paris. Als es schließlich eintrifft, ist die Antwort anders als erwartet. Die Pariser Missionsgesellschaft will ihn als Missionar nicht haben. Seine theologischen Ansichten sind den Entscheidungsträgern in Paris zu liberal. Am 11. Oktober trifft sich Albert Schweitzer mit Missionsdirektor Boegner in Paris. Schweitzer eröffnet dem Direktor, dass er sich entschieden habe Medizin zu studieren. Dem Direktor, so wird berichtet, fiel ein Stein vom Herzen. Eine andere Möglichkeit, die Albert Schweitzer in dem Brief vom 9. Juli erwähnt hatte für den Fall, dass es mit der Pariser Missionsgesellschaft nicht klappen sollte, nämlich dann zu versuchen, in den Dienst einer liberalen deutschen Missionsgesellschaft zu treten, erwähnt Schweitzer im Gespräch mit Direktor Boegner jetzt nicht mehr. Es scheint so gewesen zu sein, dass er den Ruf Jesu so verstanden hat: Am Ogowe in Lambarene sollst Du dienen und nirgendwo sonst, wenn nicht als Missionar, dann als Arzt. Diesem Ruf ist Albert Schweitzer 1913 mit seiner Frau Helene, die er im Juni 1912 geheiratet hatte, gefolgt und diesem Ruf ist er bis an sein Lebensende trotz aller Schwierigkeiten treu geblieben.[5]

Was können wir nun aus der Lebensgeschichte Albert Schweitzers lernen und auf unser Leben beziehen, damit wir unser Lambarene finden, den Ort, wo Gott uns haben will, die Aufgabe, die Gott von uns gelöst haben will?

Erstens: Es gibt im Leben von Menschen – ich glaube: im Leben eines jeden Menschen – Wegweiser von Gott. Diese Wegweiser können ganz unterschiedlich sein. Im Falle Albert Schweitzers war es das Lesen des Textes „Was der Kongo-Mission Not tut.“ In Ihrem Fall kann das etwas ganz anderes sein. Wichtig ist, dass man in seinen eigenen Lebensumständen die Augen und die Ohren offen hält und nach den Wegweisern Ausschau hält. Albert Schweitzer wollte – als er sich an Pfingsten 1896 entschied, ab seinem 30. Lebensjahr einen Beruf zu ergreifen, bei dem er anderen Menschen direkt hilft – es von den Umständen abhängig machen, wie und wo er anderen Menschen helfen wolle. Und er hat dann - und das ist dann der zweite Punkt, den wir aus der Lebensgeschichte Albert Schweitzers lernen können – in seinen Lebensumständen Ausschau gehalten nach Wegweisern Gottes. Dabei hat es acht Jahre gedauert, bis er im Herbst 1904 beim Lesen des Textes „Was der Kongo-Mission Not tut“ den entscheidenden Wegweiser gefunden hat. Und damit sind wir beim dritten Punkt. Wir brauchen oft viel Geduld. Albert Schweitzer hat nicht nur acht Jahre nach dem entscheidenden Wegweiser gesucht. Er hat dann noch einmal neun Jahre warten müssen, bis er endlich nach Lambarene ausreisen konnte. Viertens: Auch ein Albert Schweitzer kannte Zweifel und Ängste. Sie kommen in den Briefen an seiner spätere Frau Helene zum Ausdruck.[6] Fünftens: Wenn wir einem Wegweiser folgen, von dem wir in unserem tiefsten Innern glauben, es sei ein Wegweiser von Gott, dann werden wir damit rechnen müssen, dass wir harte Kritik werden einstecken müssen, teilweise von engen Angehörigen und Freunden. Das Verhältnis zwischen Albert Schweitzer und seiner Mutter blieb auf Grund der Pläne Schweitzers angespannt bis zum tragischen Tod der Mutter im 1. Weltkrieg. Das Verhältnis zum Vater hat sich zum Glück im Laufe der Jahre normalisiert.[7] Sechstens dürfen diejenigen, die einem Wegweiser Gottes folgen, darauf hoffen, dass Gott ihnen in der Regel durch andere Menschen hilft, wenn große Schwierigkeiten auftauchen. Albert und Helene Schweitzer hatten mit der Pariser Missionsgesellschaft abgemacht, auf eigene Kosten nach Lambarene zu gehen. Sie hatten bei Freunden um Spenden gebeten und hatten bei ihrer Ausreise im März 1913 soviel zusammen, dass sie in Friedenszeiten zwei Jahre in Lambarene sich finanziell über Wasser hätten halten können. Da jedoch ein gutes Jahr nach ihrer Ankunft der 1. Weltkrieg ausbrach, wurde das deutsche Ehepaar Schweitzer in der französischen Kongokolonie von seinen deutschen Konten abgeschnitten. Sie mussten bei der Pariser Missionsgesellschaft Schulden machen, um in Lambarene finanziell handlungsfähig zu bleiben. Diese Schulden betrugen am Ende des Krieges etwas mehr als 20000 Francs. Als Albert Schweitzer nach dem Krieg in Straßburg eine Doppeltätigkeit aufnahm als Arzt in einem Krankenhaus und als Prediger in der Nicolai-Kirche hatte er dabei ein Jahreseinkommen von rund 5000 Francs, d.h. der Schuldenberg betrug vier Jahreseinkommen. Das Unternehmen Lambarene schien gescheitert. Zu glauben, das Lesen des Textes „Was der Kongomission Not tut“ sei ein Wegweiser Gottes gewesen, schien sich als ein Hirngespinst herauszustellen. In dieser Situation bekommt Albert Schweitzer – und das ist für mich der spannendste Punkt in der Lebensgeschichte Albert Schweitzers – ganz unerwartete Hilfe. Und zwar durch den schwedischen Bischof Nathan Söderblom. Beide hatten sich bis dahin persönlich nicht gekannt. Aber Söderblom wusste, dass Albert Schweitzer ein hoffnungsvoller Nachwuchswissenschaftler war, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, um als Arzt nach Afrika zu gehen. Und Söderblom wusste auch, dass Albert Schweitzer jetzt wieder in Europa war. Er dachte: Das ist ein interessanter Mann. Der hat doch bestimmt was zu erzählen. Den lade ich mal zu einem Vortrag ein. Als Albert Schweitzer dieser Einladung folgte und in Schweden ankam, stimmte die Chemie zwischen beiden sofort. Daraufhin schüttete Albert Schweitzer Söderblom sein Herz aus und erzählte ihm von seinen drückenden Schulden. Daraufhin machte Söderblom Schweitzer den Vorschlag, er solle Orgelkonzerte geben. Er, Söderblom würde ihm bei der Organisation helfen. Er würde ihm die Türen in Schweden öffnen, die er ihm öffnen könne und das seien nicht wenige. Und dann sollte man mal sehen, was dabei heraus kommt. Das haben sie getan. Und diese Orgelkonzerte waren so erfolgreich, dass Albert Schweitzer innerhalb kürzester Zeit seine Schulden zurückzahlen, für seine Frau und seine Tochter im Schwarzwald ein Haus bauen und 1924 zum zweiten Mal nach Lambarene reisen konnte, um dann endgültig den Grundstein zu legen zum später weltberühmt gewordenen Albert Schweitzer Spital Lambarene.[8]

Bleibt schließlich zum Schluss die Frage, ob Albert Schweitzer in Lambarene Jesus gefunden hat, wie er es in dem Brief vom 9. Juli 1905 an seine spätere Frau Helene vorhergesagt hat. Ich möchte mich an diese Frage etwas herantasten und zunächst auf säkulare Weise fragen: Hat es sich für Albert Schweitzer gelohnt, nach Lambarene zu gehen? Albert Schweitzer ist durch sein Spital weltberühmt geworden. Er hat für sein Lebenswerk für das Jahr 1952 den Friedensnobelpreis zugesprochen bekommen. Und Mitte der 50 er Jahre ist seine Stimme weltweit gehört worden, als er über Radio Oslo sich gegen die Atombombenversuche der Supermächte aussprach. Insofern wird man wohl schon sagen können, dass es sich von einem säkularen Gesichtspunkt aus für ihn gelohnt hat, nach Lambarene zu gehen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass er dort Jesus gefunden hat. Es ist noch nichts darüber gesagt, ob das seinen Durst gestillt hat, wie er das in dem Bewerbungsbrief an Direktor Boegner vom 9. Juli 1905 zum Ausdruck gebracht hat. Eine Antwort auf diese Frage ist sehr schwer. Und ich habe keinen Text gefunden, in dem Albert Schweitzer darauf eine direkte Antwort gibt. Aber ich habe einen Text gefunden, der auf die letzte Passage des persönlichen Glaubensbekenntnisses von Albert Schweitzer passt, nämlich, dass diejenigen, die Jesus gehorchen, auf eine geheimnisvolle Weise erfahren werden, wer er ist. Diese Passage steht in seinem Buch „Zwischen Wasser und Urwald“. Es heißt dort: „Die Operation ist vorüber. Unter der dunklen Schlafbaracke überwache ich das Aufwachen des Patienten. Kaum ist er bei Besinnung, so schaut er erstaunt umher und wiederholt fort und fort: ‚Ich habe ja nicht mehr weh, ich habe ja nicht mehr weh!' Seine Hand sucht die meine und will sie nicht mehr loslassen. Dann fange ich an, ihm und denen, die dabeisitzen, zu erzählen, dass es der Herr Jesus ist, der dem Doktor und seiner Frau geboten hat, hier an den Ogowe zu kommen, und dass weiße Menschen in Europa uns die Mittel geben, um hier für die Kranken zu leben. Nun muss ich auf die Fragen, wer jene Menschen sind, wo sie wohnen, woher sie wissen, dass die Eingeborenen so viel unter Krankheiten leiden, Antwort geben. Durch die Kaffeesträucher hindurch scheint die afrikanische Sonne in die dunkle Hütte. Wir aber, Schwarz und Weiß, sitzen untereinander und erleben es: ‚Ihr aber seid alle Brüder.’ Ach, könnten die gebenden Freunde in Europa in einer solchen Stunde dabei sein!...“[9] Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.



[1] Schweitzer, Albert, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen, 9. Auflage 1984, 630.

[2] Vgl. Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, 5. Auflage 2001, 56 sowie Gustav Woytt, Albert Schweitzer und die Pariser Mission, in: Albert-Schweitzer-Studien, hg. v. Richard Brüllmann, Bern, Stuttgart 1989, 129.

[3] Albert Schweitzer – Leben, Werk und Denken 1905 – 1965, mitgeteilt in seinen Briefen, hg. v. Hans Walter Bähr, Heidelberg 1987, 12f.

[4] Albert Schweitzer, Helene Bresslau, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912, hg. v. Rhena Schweitzer-Miller und Gustav Woytt, München 1992, 100.

[5] Vgl. Gustav Woytt, Albert Schweitzer und die Pariser Mission, in: Albert-Schweitzer-Studien, hg. v. Richard Brüllmann, Bern, Stuttgart 1989, 134.

[6] Vgl. u.a.  Albert Schweitzer, Helene Bresslau, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912, hg. v. Rhena Schweitzer-Miller und Gustav Woytt, München 1992, 100-102.

[7] Vgl.  Gustav Woytt, Albert Schweitzer und die Pariser Mission, in: Albert-Schweitzer-Studien, hg. v. Richard Brüllmann, Bern, Stuttgart 1989, 136-139.

[8] Vgl. Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, 5. Auflage 2001, 160-162; Gustav Woytt, Die Rückkehr Albert Schweitzers nach Lambarene 1924 und die Pariser Mission, in: Albert-Schweitzer-Studien 2, hg. v. Richard Brüllmann, Bern, Stuttgart 1991, 178-180; Verena Mühlstein, Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene, München 1998, 188f.191f.

[9] Albert Schweitzer, Zwischen Wasser und Urwald, in: Selbstzeugnisse, München 8. Auflage 1988, 143.