Das Rennen
Oder:
Die Faszination des Laufens im Wettkampf
Es war sein erstes 1000 Meter Rennen der Saison und er wusste, dass er was drauf hatte, denn im Winter hatte er so hart trainiert wie nie zuvor. Doch sein größter Rivale hatte ihn nicht auf der Rechnung. Bisher hatte dieser ihn immer geschlagen und dieser Rivale sah seinerseits in zwei anderen Läufern seine stärksten Konkurrenten. Dies hatte er einem Zuschauer erzählt und dieser wiederum teilte es unserem Mann mit. Jetzt war er richtig heiß auf das Rennen. Jetzt wollte er es unbedingt gewinnen.
Der Startschuss ertönt und unser Mann setzt sich gleich an die zweite Stelle. Doch schon nach 50 Metern merkt er, dass das Rennen zu langsam ist. Er weiß, dass es ein schnelles Rennen werden muss, damit er eine Siegeschance hat. Denn zumindest sein größter Rivale ist im Spurt wohl schneller als er. Deshalb setzt er sich nach 50 Metern selbst an die Spitze, um das Tempo zu bestimmen. Bei 400 Meter geht er in 62 Sekunden durch. Die anderen sind direkt hinter ihm. 62 Sekunden – nicht zu schnell und nicht zu langsam. Aber jetzt muss eine Vorentscheidung fallen. Jetzt muss er sich von den anderen absetzen. Jetzt muss er voll reinknüppeln. Er kann sich nicht umdrehen und weiß deshalb zunächst nicht, wie sehr sein Vorsprung anwächst. Doch dass er gerade etwas tut, was die meisten Zuschauer begeistert, merkt er an ihrer Reaktion: Sie peitschen ihn nach vorne. Um die Laufbahn haben sie sich verteilt, um ihn anzufeuern. Wie ihr Mann auf der Bahn haben sie sich für ihre Schule zum Landesentscheid von „Jugend trainiert für Olympia“ zur Verfügung gestellt, um gemeinsam – jeder in seiner Disziplin – Punkte zu sammeln, um als Schule die Fahrkarte zum Bundesentscheid in Berlin zu gewinnen.
Das Rennen geht jetzt in seine entscheidende Phase. 300 Meter vor dem Ziel hört er, wie ihm ein Zuschauer zuruft: „Du hast 10 Meter Vorsprung!“ 50 Meter weiter steht sein Trainer, der ihn anbrüllt: „Kämpfen bis zum Umfallen!“ An der 800 Meter Marke hört er 2:03 als Zwischenzeit. Die Beine sind schwer geworden von der zweiten 61er Runde. Doch der Satz seines Trainers ist im Gedächtnis haften geblieben: „Kämpfen bis zum Umfallen.“ „Man muss sein Gehirn zurückschrauben können, auf die einfachen Sätze, auf die mit Ausrufzeichen!“ Diese Fähigkeit als ein entscheidender Faktor des Erfolgs wurde einst Henry Rono zugeschrieben, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre der beste Langstreckenläufer der Welt. „Kämpfen bis zum Umfallen!“ – Das ist so ein Satz mit Ausrufezeichen. Unser Mann gibt alles auf den letzten 200 Metern. Und auch wenn zwei Läufer noch dicht herankommen – ihr Lasso ist zu kurz gewesen. Nach 2:34,9 Minuten hören für unseren Mann die Uhren auf zu ticken. Nicht schlecht für einen 18 jährigen. Sein größter Rivale, der einen Schritt nach ihm als Zweiter ins Ziel kommt, ist einer der ersten Gratulanten. So was tut gut. Man kommt sich näher durch so ein Rennen.
Am nächsten Tag ist das Rennen Gesprächsthema in der Schule. Unser Mann träumt von einer großen Läuferkarriere. 2:25 müssten irgendwann eigentlich drin sein. Vielleicht sogar 2:23. Dort steht damals der Saarrekord. - Es kommt anders. Ein knappes Jahr später macht eine Knieverletzung allen Träumen einen Strich durch die Rechnung. Doch von jenem 1000 Meter Lauf wird er noch seinen Enkeln erzählen.
Udo Nilius