Was ist Dein Jericho?

Liebe Gemeinde,

 

Gott hat die Israeliten unter der Anführung des Mose aus Ägypten aus der Sklaverei herausgeführt und hat ihnen ein eigenes Land verheißen. 40 Jahre dauert ihre Reise durch die Wüste, bis sie den Jordan überqueren und ihre Füße auf das verheißene Land stellen können. Vor ihnen liegt Jericho, eine gut befestigte Stadt. Gott gibt den Israeliten den Auftrag, die Stadt an sechs Tagen hintereinander je einmal schweigend zu umrunden. Lediglich sieben Priester sollen in ihre Posaunen blasen. Am siebten Tag sollten sie die Stadt sieben Mal umkreisen. Sechs Mal davon wiederum schweigend und beim siebten Mal sollten sie in Kriegsgeschrei ausbrechen. Als sie das dann taten, fielen am siebten Tag bei der siebten Umrundung die Mauern von Jericho ein und sie konnten die Stadt einnehmen. (Jos 6, 3-22)

Es gibt eine Auslegungsmethode biblischer Texte, die sich „existentiale Interpretation“ nennt. Diese existentiale Interpretation erlaubt es, auch Bibeltexte, die dem Kern des christlichen Glaubens widersprechen – und die Geschichte von der Einnahme Jerichos widerspricht fundamental der christlichen Nächsten- und erst recht der christlichen Feindesliebe – die existentiale Interpretation erlaubt es, solche Texte auf das eigene Leben zu beziehen, ja für das eigene Leben fruchtbar zu machen, indem man versucht, das Muster, das in der Geschichte enthalten ist, auf das eigene Leben zu beziehen.

Am Anfang von der Geschichte der Einnahme Jerichos steht eine Verheißung. Gott verheißt dem Josua, der nach dem Tod des Mose dessen Nachfolger geworden war: „Siehe, ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hand gegeben.“ (Jos 6,2)

Wenn wir das Muster von der Einnahme Jerichos auf unser Leben übertragen wollen, dann stellt sich als erstes die Frage: Was hat Gott in unsere Hand gegeben? Was ist Gottes Verheißung an uns? Was hat er in Deine Hand gegeben? Oder anders gefragt: Was ist Dein persönliches Jericho?

Diese Frage ist auf Anhieb oft nicht einfach zu beantworten. Es hat etwas zu tun mit Gottes Willen für unser Leben. Im Vaterunser beten wir an einer Stelle: „Dein Wille geschehe.“ Wenn man im Gebet diesen Satz immer wieder sagt oder auch beim Spazierengehen diesen Satz immer wieder wiederholt, dann kann man eine Ahnung davon bekommen, was Gott von uns will, was letztlich unser persönliches Jericho ist.

Wenn man zumindest eine Ahnung hat, was Gott von einem will, dann gilt es, das persönliche Jericho zu umrunden. Was heißt das konkret? Was kann das konkret heißen? Ich will versuchen diese Frage zu beantworten an Hand eines Beispiels von mir selbst.

Mein persönliches Jericho war irgendwann das Berufsziel Pfarrer. Das war für mich keineswegs von vorneherein klar. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass Gott das von mir will. Ich habe dann mein persönliches Jericho umrundet, indem ich intensiv studiert und auch viel gebetet habe. Es gab Umwege und Rückschläge, aber irgendwann hatte ich alle Zeugnisse in der Tasche. Aber damit hatte ich mein persönliches Jericho noch nicht eingenommen. Ich hatte – um im Bild der Geschichte zu sprechen – Jericho an sechs Tagen umrundet. Um mein Jericho einzunehmen, brauchte ich aber auch einen Arbeitsplatz, wo ich in meinem Beruf arbeiten konnte. Und einen solchen zu finden, war Mitte der 90er Jahre, als ich mit der Ausbildung fertig war, alles andere als einfach. Es gab nämlich Mitte der 80er Jahre einen Boom an Theologiestudenten, die Mitte der 90er Jahre alle in den Beruf geströmt sind. Gleichzeitig ist das Geld in der Kirche immer knapper geworden, weil seit Anfang der 90er Jahre viele Leute aus der Kirche ausgetreten sind, so dass viele Stellen, die frei wurden nicht mehr neu besetzt werden konnten, weil das Geld nicht mehr ausreichte. Ich habe mein Jericho weiter umrundet, indem ich unzählige Bewerbungen geschrieben habe. Aber ich bekam nur Absagen. Es gab kaum eine Stelle, auf die sich weniger als 20 Personen beworben haben. Und es gab Stellen, da gab es über 100 Bewerber. Zwei Mal war ich in engerer Wahl. Einmal kam ich auf die zweite Stelle, einmal auf die vierte Stelle. Aber das nützt alles nichts. Du musst erster sein, um die Stelle zu bekommen. Ich wurde arbeitslos. Und dann sind die Mauern meines persönlichen Jerichos fast wie von selbst eingestürzt. Ich bekomme in dieser Situation der Arbeitslosigkeit einen Anruf von einem ehemaligen Studienkollegen von mir, der einige Jahre vor mir fertig wurde und Schulpfarrer geworden war, das was ich heute auch bin. Er hat mir gesagt, dass er sich Geld gespart hat, um ein Jahr lang Urlaub zu nehmen ohne Bezüge und eine Weltreise zu machen. Er braucht aber einen, der ihn vertritt. Ob ich das machen will. Ich habe natürlich sofort zugesagt und hatte eine Jahr lang Arbeit. Als diese Zeit sich ihrem Ende näherte, hab ich gedacht: In 14 Tagen bist du wieder arbeitslos. Wenige Tage später komme ich nach Hause und habe zwei Anrufe auf meinem Anrufbeantworter. Der erste von meiner kirchlichen Vorgesetztenstelle in Ottweiler. Hat mir die Sekretärin drauf gesprochen: „Herr Nilius, kommen Sie bitte nach Ottweiler den Vertrag unterschreiben.“ Ich wusste überhaupt nicht, von was für einem Vertrag sie spricht. Der zweite Anruf hat die Sache klar gemacht. Der war vom sog. Schulreferat: „Herr Nilius, wir können Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, dass eine Kollegin in Saarbrücken wegen Schwangerschaft ein halbes Jahr vertreten werden muss. Sie können das machen, wenn Sie wollen.“ Hab ich wieder ein halbes Jahr Arbeit gehabt. Und als diese Zeit sich ihrem Ende näherte, komme ich eines Tages wieder nach Hause, ist wieder ein Anruf auf meinem Anrufbeantworter, diesmal von meiner damaligen kirchlichen Chefin: „Es tut sich schon wieder eine Tür auf.“ Hat sich rausgestellt, dass mein Vorgänger an der Schule, der damals 62 oder 63 Jahre alt war, einen leichten Schlaganfall bekommen hatte und deswegen, ein Jahr bevor er eigentlich wollte, in den vorzeitigen Ruhestand ging.

Um sein persönliches Jericho einzunehmen braucht man einen langen Atem. Aber man braucht nicht nur einen langen Atem. Es ist eine Aufgabe, die einen immer wieder auf die Knie zwingt, wo man Gott von ganzem Herzen sucht, weil man spürt, dass man der Aufgabe alleine nicht gewachsen ist. Wenn wir Gott auf Knien von ganzem Herzen suchen, dann gilt für uns die Verheißung, dass er sich von uns finden lassen wird. „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, will ich mich von euch finden lassen“, heißt es im Buch des Propheten Jeremia (29,13f). Schon vor der Einnahme unseres persönlichen Jerichos können wir Gott auf Knien finden, indem er uns den Frieden schenkt, der höher ist als alle Vernunft. Amen.