Das Unfassbare - Eindrücke aus Ruanda

 

Es ist mucksmäuschenstill. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen machen sich nach der Rede von Staatspräsident Paul Kagame in der Gedenkstätte Murambi auf zu den Räumen, in denen unzählige mumifizierte Leichen liegen. Es ist der 7. April, der höchste Feiertag im Land, der Tag, an dem des Genozids in Ruanda im Jahr 1994 gedacht wird. Und im Jahr 2007 findet die Hauptgedenkveranstaltung in Murambi statt. Murambi ist ein kleiner Ort im Südwesten von Ruanda. Während des Völkermords im Jahr 1994 suchten die Menschen aus der verfolgten Volksgruppe der Tutsi Rat beim Bürgermeister. „Wo können wir hin? Wo kann uns Schutz geboten werden?“ „Geht in den Schulkomplex, der gerade mit französischer Hilfe gebaut wird. Französische Soldaten werden dort hin kommen und Euch beschützen.“ Etwa 50.000 Menschen lagern sich daraufhin auf dem Gelände der in Bau befindlichen Schule – und sitzen in der Falle. Es kommen keine Franzosen, die sie beschützen, sondern ein Trupp von Mördern, die alle Menschen töten – mit Ausnahme von vieren. Drei von ihnen sind heute psychisch krank, der vierte gibt uns als Zeitzeuge bei unserem ersten Besuch im Jahr 2001 Auskunft darüber, was damals geschah. Nach dem Morden wurden große Gruben ausgehoben und die Leichen mit Bulldozern in die Massengräber hineingedrückt. Im Jahr 1996 wurde ein Teil der Massengräber geöffnet, die noch nicht verwesten Leichen mit Kalk mumifiziert und dann in Räume gelegt, die eigentlich einmal Schulklassen beherbergen sollten. Es ist ein Anblick, der nur schwer zu ertragen ist und den man nie wieder vergisst. In einem Raum liegen nur Kinder.

Ruanda 1994 – das war die Hölle auf Erden. Innerhalb von 100 Tagen werden 800.000 Menschen ermordet, das sind im Durchschnitt 8000 Tote pro Tag, 333 Tote pro Stunde oder 5,5 Tote pro Minute. Und nur so zum Vergleich: Am 11. September 2001 kamen etwa 3000 Menschen ums Leben; in Ruanda 8000, jeden Tag, einhundert Tage lang. Und ein Großteil der Welt hat weggeschaut oder mit Zynismus reagiert. „Das Leben von 800.000 Ruandern ist nicht mehr wert als das Leben von zehn amerikanischen Soldaten“, hat ein amerikanischer Offizier zu Roméo Dallaire gesagt. Roméo Dallaire war Oberbefehlshaber der UN-Blauhelmsoldaten, die das wenige Monate vor Beginn des Völkermords ausgehandelte Friedensabkommen zwischen der ruandischen Regierung und der Ruandisch-Patriotischen Front (RPF) absichern sollten. Dieses Friedensabkommen sah vor, dass die einst vertriebenen oder vor Pogromen geflohenen Ruander aus der Volksgruppe der Tutsi die Möglichkeit bekamen, aus den Nachbarländern wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Sie wurden hauptsächlich von der RPF vertreten, die von dem heutigen Staatspräsidenten Paul Kagame angeführt wurde, der einst selbst als zweijähriges Kind mit seiner Familie aus Ruanda nach Uganda fliehen musste. Hardlinern aus der zweiten und dritten Reihe der Regierung war dieses Abkommen jedoch ein Dorn im Auge und sie schmiedeten Pläne, alle Tutsi im Land auszulöschen. Nachdem der Völkermord in der Nacht vom 6. auf  den 7. April 1994 begonnen hatte, sagte Dallaire der UN-Zentrale in New York, dass er mit 4000 gut ausgebildeten Soldaten das Morden stoppen könne. Seinem Anliegen wurde jedoch nicht entsprochen. Im Gegenteil. Als zehn belgische Blauhelmsoldaten getötet wurden, wurde ein Großteil der etwa 2500 UN-Soldaten abgezogen. 454 blieben übrig. Erst die Ruandisch- Patriotische Front machte dem Morden im Juli 1994 ein Ende.

 

Als wir im Jahr 2001 Ruanda besuchen, sind die Spuren des Völkermords noch überall zu sehen. Am auffallendsten sind die vielen Straßenkinder, die man den ganzen Tag über, auch morgens, wenn man sie in einer Schule erwarten sollte, auf der Straße sieht; in Lumpen gekleidet, meist barfuss; Schafe, Ziegen, Kühe oder Schweine hütend und oft nicht einmal das, sondern einfach nur herumlungernd. Einmal haben wir Gelegenheit, mit einer Gruppe solcher Straßenkinder mit Hilfe von Dolmetschern zu reden. Sie schlafen meistens im Freien, ab und zu einmal in einer verlassenen Hütte. Sie können sich in der Regel einmal am Tag eine Mahlzeit zusammenbetteln. Sie waschen sich, wenn es geregnet hat. Dann fahren sie mit ihren Händen durchs nasse Gras oder durch eine Pfütze und dann mit den nassen Händen durchs Gesicht. Das ist ihre Wäsche. Auf unsere Frage, was sie für Träume, Wünsche, Visionen von der Zukunft haben, folgt zunächst einmal großes Schweigen. Dann sagt ein Mädchen, dass es sich wieder eine Familie wünscht. Auf die Nachfrage, was mit der eigenen Familie ist, antwortet das Mädchen, dass Vater und Mutter während des Genozids ermordet wurden und der einzige Bruder an der Front gefallen ist. Seitdem lebt das Mädchen auf der Straße. Seit seinem achten Lebensjahr. - Wenige Tage später besuchen wir unsere Patenkinder, die unsere kirchlichen Partner betreuen. Innerhalb dieses Landes könnte der Kontrast zu den Straßenkindern kaum größer sein. Die Patenkinder sind ordentlich gekleidet in Schuluniform, bekommen drei Mahlzeiten am Tag, haben im Internat ein Dach über dem Kopf, werden medizinisch versorgt und lernen u.a. Englisch und Französisch, während 30 % der Bevölkerung Analphabeten sind. Und das alles für 15 € im Monat. Es ist unglaublich, mit wie wenig Geld man effektiv helfen kann.

Ruanda ist bis heute prozentual zur Gesamtbevölkerung gesehen das Land mit den meisten Straßenkindern, den meisten Waisen und den meisten Witwen weltweit. Allerdings hat sich auch viel im Land getan. Als wir 2007 erneut Ruanda besuchen, sieht man deutlich weniger Straßenkinder. Und Ruanda ist heute das sicherste Land in der Region. – Dennoch, der Völkermord ist auch heute noch ein Thema, das ganz nah an den Menschen dran ist. Das wird an Tagen wie dem 7. April 2007 deutlich. Die Menschen in Murambi sind berührt und gefasst zugleich angesichts des Schreckens, der sich hier 13 Jahre zuvor ereignet hat. Das Schweigen der Menschen und die Stille in der Natur lassen eine ganz besondere Atmosphäre entstehen. Dann fangen zwei oder drei Menschen plötzlich an, ganz laut zu schreien. Es ist der Schrei über das Unfassbare, das Menschen Menschen antun können.

 

 

Udo Nilius

 

 

Literatur zur Vertiefung:

 

Roméo Dallaire, Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda, Frankfurt 2005. (Das oben genannte Zitat des amerikanischen Offiziers findet sich auf Seite 588.)

Philip Gourevitch, Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden. Berichte aus Ruanda, Berlin 2008.

Jean Hatzfeld, Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ruandas, Gießen 2004.

Jean Hatzfeld, Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermords in Ruanda, Gießen 2004.

Paul Rusesabagina, Ein gewöhnlicher Mensch. Die wahre Geschichte hinter „Hotel Ruanda“, Berlin 2006.

Esther Mujawayo, Ein Leben mehr. Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda, Wuppertal 2005.

Esther Mujawayo, Auf der Suche nach Stéphanie, Wuppertal 2007.

Immaculée Ilibagiza, Aschenblüte. Ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann, Berlin 2008.

Alison DesForges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburg 2002.

Linda Melvern, Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt, München 2004.