Der Wegweiser
Albert Schweitzer hatte als 21 jähriger Student den Entschluss gefasst, bis zu seinem 30. Lebensjahr sich der Wissenschaft und dem Orgelspiel zu widmen und danach einen Beruf zu ergreifen, bei dem er anderen Menschen direkt hilft. Was das sein würde, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.[1] Wenige Monate vor seinem 30. Geburtstag liest er zufällig einen Bericht der Pariser ev. Missionsgesellschaft über die Not im Norden von französisch Kongo mit dem Titel: „Les besoins de la mission du Congo“ (Was der Kongomission Not tut). Der Schluss lautete: „Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit: ‚Herr, ich mache mich auf den Weg’, antworten, dieser bedarf die Kirche.“ Schweitzer schrieb später: „Als ich mit dem Lesen fertig war, nahm ich ruhig meine Arbeit vor. Das Suchen hatte ein Ende.“[2] Schweitzer wollte sich der Missionsgesellschaft als Missionar zur Verfügung stellen. Aber die konservativen Verantwortlichen in Paris akzeptierten ihn unerwarteter Weise nicht, da er mittlerweile bereits als liberaler Theologe bekannt war. Schweitzer ließ sich davon aber nicht abschrecken. Er begann im Alter von 30 Jahren noch mit dem Medizinstudium und stellte sich nach dessen Abschluss der Missionsgesellschaft als Arzt zur Verfügung. Allerdings ging er anders als zunächst geplant auf eigene Kosten nach Lambarene[3] und versprach bezüglich der kirchlichen Verkündigung „stumm zu sein wie ein Karpfen“[4], woran er sich später aber nicht gehalten hat. Als Albert und Helene Schweitzer am 18. April 1913 in Lambarene ankamen, kamen sie als deutsche Staatsbürger in eine französische Kolonie. Als ein Jahr später der erste Weltkrieg ausbrach, waren die Schweitzers von ihren deutschen Konten abgeschnitten. Um sich in Lambarene über Wasser zu halten, mussten sie bei der Missionsgesellschaft Schulden machen, die am Ende des Krieges ca. 21500 Franc betrugen. Nach dem Krieg – die Schweitzers waren zwischenzeitlich im Jahr 1917 nach Frankreich deportiert worden – nahm Albert Schweitzer in Straßburg eine Doppeltätigkeit auf als Arzt in einem Krankenhaus und als Prediger in der Nikolai-Kirche. Er hatte dabei ein Jahresverdienst von ca. 5000 Franc, d.h. sein Schuldenberg betrug mehr als vier Jahreseinkommen.[5] Das Unternehmen Lambarene schien gescheitert. Das Lesen des Textes „Was der Kongomission Not tut“ als Hinweis oder Wegweiser Gottes zu sehen, schien sich als Hirngespinst herauszustellen. In dieser Situation – und das ist für mich der spannendste Punkt im Leben Albert Schweitzers - bekommt er völlig unerwartete Hilfe und zwar durch den schwedischen Bischof Nathan Söderblom. Beide kannten sich persönlich nicht. Aber Söderblom hatte von Schweitzer gehört. Er wusste, dass Schweitzer als hoffnungsvoller Nachwuchswissenschaftler alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, um als Arzt nach Afrika zu gehen. Und er hatte gehört, dass Schweitzer jetzt wieder in Europa war. Er dachte sich, dass Schweitzer ein interessanter Mann ist, der bestimmt was zu sagen hatte und lud ihn nach Schweden zu einem Vortrag ein. In Schweden erzählte Schweitzer Söderblom von seinen drückenden Schulden, woraufhin dieser den Vorschlag machte, Schweitzer solle Orgelkonzerte geben. Er, Söderblom, wolle bei der Organisation helfen und ihm die Türen öffnen, die er ihm in Schweden öffnen konnte. Diese Konzerte brachten dann die Wende. Sie waren so erfolgreich, dass Schweitzer innerhalb kürzester Zeit seine Schulden zurückzahlen, für seine Frau und seine 1919 geborene einzige Tochter im Schwarzwald ein Haus bauen und 1924 zum zweiten Mal nach Lambarene reisen konnte, um dann endgültig den Grundstein zu legen zum später weltberühmt gewordenen „Albert Schweitzer Spital Lambarene.“[6]
Aber warum hielt Albert Schweitzer an der Pariser Missionsgesellschaft fest, nachdem die Verantwortlichen ihn als Missionar nicht akzeptierten? „Weshalb hat er sich der widerstrebenden Pariser Mission fast aufgedrängt, statt sich an einen anderen Missionsverein zu wenden, der ihn mit offenen Armen aufgenommen hätte? Dafür gibt es wohl nur eine Erklärung: die direkte Berufung, die er beim Lesen des Artikels: ‚Les besoins de la mission du Congo’ erfahren hat. Unverrückbar seit dieser Zeit und in seinem ganzen späteren Leben blieb für ihn das Ziel, dahin zu gehen und dort zu wirken, wohin er sich durch einen ganz persönlichen Befehl seines Herren geschickt fühlte, nämlich im Gabun ‚auf Vorposten des Reiches Gottes zu stehen.’“ [7] Als er diesem Wegweiser Gottes folgte, stellten sich ihm Schwierigkeiten in den Weg. Die hohen Schulden am Ende des 1.Weltkrieges schienen sogar das Ende aller Lambarene-Pläne zu sein. Doch Gott hilft ihm, indem Nathan Söderblom Schweitzer eine Einladung schickt.[8]
[1] Schweitzer, Albert, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, in: Schweitzer, Albert, Selbstzeugnisse, München 1959, 9-64, hier: 51-53.
[2] Schweitzer, Albert, Aus meinem Leben und Denken, Hamburg, o.J., 85.
[3] Schweitzer, 111.
[4] Schweitzer, 112.
[5] Vgl. Woytt, Gustav, Die Rückkehr Albert Schweitzers nach Lambarene 1924 und die Pariser Mission, in: Brüllmann, Richard (Hg.), Albert-Schweitzer-Studien 2, Bern und Stuttgart 1991, 173-205, hier: 176f.
[6] Schweitzer, 178-180 und Woytt, Rückkehr, 179-181.
[7] Woytt, Gustav, Albert Schweitzer und die Pariser Mission, in: Brüllmann, Richard (Hg.), Albert-Schweitzer-Studien, Bern und Stuttgart 1989, 114-221, hier: 220f.
[8] Die Hilfe Gottes durch andere Menschen zeigt sich in der Bibel z.B. beim Propheten Jeremia: Ein Ratschlag durch Menschen in Jer 36,19 erweist sich schließlich als Werk Gottes (Jer 36, 26). Vgl. dazu: Axel Graupner, Auftrag und Geschick des Propheten Jeremia. Literarische Eigenart, Herkunft und Intention vordeuteronomistischer Prosa im Jeremiabuch, BThS 15, Neukirchen-Vluyn 1991, 186f.