Gedanken nach einer Lambarene Reise 2003

Die Ehrfurcht vor dem Leben und vegetarische Ernährung

 

„Meine Ansicht ist, dass wir, die für die Schonung der Tiere eintreten, ganz dem Fleischgenuss entsagen und auch gegen ihn reden.“ Diesen Satz schrieb Albert Schweitzer in einem Brief im Jahr 1964, ein Jahr vor seinem Tod.[1] 1915 hatte er seine berühmte „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ entwickelt, die besagt, dass wir nur dann Tod und Leid über ein Lebewesen bringen dürfen, wenn eine unentrinnbare Notwendigkeit vorliegt. Mit seiner Forderung aus dem Jahr 1964, die sich aus seiner Ethik ergab, hat er sich lange zurückgehalten. Wahrscheinlich ist diese Forderung für die meisten Menschen auch heute zuviel verlangt. Aber es hat mich schon etwas überrascht, dass es im Albert Schweitzer Spital in Lambarene jeden Mittag Fleisch oder Fisch gab. War das auch zu Schweitzers Zeiten so? In der Literatur finde ich Aussagen, dass Schweitzer in seinen letzten Lebensjahren Vegetarier gewesen sei.[2] Diese Aussagen in Verbindung mit seiner Ethik waren für mich vor 25 Jahren während meines Studiums die Brücke zwischen meiner wenige Jahre zuvor begonnenen vegetarischen Ernährungsweise und meinem Studienfach Theologie. Ich habe auf dem kleinen Bauernhof meiner Eltern von klein auf das Schlachten von Tieren mitbekommen und als Jugendlicher habe ich selber Hühner geschlachtet. Mir lief es dabei immer kalt den Rücken runter. Insbesondere dann, wenn ich Hühnern den Kopf abgeschlagen hatte und ihnen erst fünf oder zehn Sekunden später die Augen zufielen. Ich wurde so erzogen, dass das zwar nicht schön ist, aber sein muss. Irgendwann kam ich zu der Erkenntnis, dass es nicht sein muss und ich fand meine Gefühle zumindest teilweise wieder in Berichten Albert Schweitzers über ähnliche Erfahrungen beim Töten von Tieren. Und schließlich gab es auch einige Aha-Erlebnisse beim Studium der Bibel. Das größte war, dass Gott dem Menschen in beiden biblischen Schöpfungsberichten vegetarische Nahrung zuweist (Gen 1,29; Gen 2,16) und dass es sich dabei um eine „Menschheitstradition“ handelt, weil die Kunde, dass die ersten Menschen Vegetarier gewesen seien, sich nicht auf die biblischen Texte beschränkt, sondern in weiteren antiken Texten aus anderen Kulturkreisen zu finden ist. Prof. Westermann schreibt dazu in seinem Kommentar: „Das ‚Menschheitliche’ an dieser Tradition ist ein Wissen, dass das Töten von Lebewesen nicht richtig und d.h. nicht im ursprünglichen Willen des Schöpfers angelegt sein kann, obwohl es in der gegenwärtigen Welt notwendig ist.“[3] Zwar gibt Gott nach biblischer Überlieferung später das Essen von Tieren frei (Gen 9,2f), aber seine Aussage „und siehe es war sehr gut“ (Gen 1,31) gegen Ende des ersten Schöpfungsberichtes gilt nur einer Welt, in der es noch kein Blutvergießen gibt[4]. Einen gewissen Berührungspunkt gibt es hier mit einigen Aussagen des amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau, der zwei Jahre allein im Wald lebte. Thoreau „wollte das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren..., damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“[5] In seinem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ gibt er Auskunft über diese zwei Jahre. In dem Kapitel „Höhere Gesetze“ schreibt er: „Ich fand wiederholt in den letzten Jahren, dass ich nicht fischen konnte, ohne ein wenig in meiner eigenen Achtung zu sinken. Ich probierte es wieder und wieder. Ich besitze Geschick darin ...; jedes Mal aber habe ich hernach das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, wenn ich nicht gefischt hätte. Ich glaube, dass ich mich nicht irre. Es ist nur eine leise Andeutung, die ersten Streifen am Morgenhimmel sind aber auch nichts anderes. ... Außerdem kam ich mir, nachdem ich meine Fische gefangen, geputzt, gekocht und gegessen hatte, nicht ordentlich genährt vor.“[6]  Die Bibel hält  an der Hoffnung auf einen Frieden mit und unter den Tieren fest (Jes 11,6-9; 65,25). Jesus kam auch zu den Tieren und für die Tiere (Mk 1,13), obwohl er selbst zumindest Fisch aß (Lk 24,42f). Der Apostel Paulus, der bei dem Streit zwischen den Fleischessern und Gemüseessern in der christlichen Gemeinde von Rom vermitteln wollte, rechnete sich selbst zwar den Fleischessern zu (Röm 14,1-15,13), spricht im selben Brief an die Römer aber auch von der Hoffnung auf Erlösung für alle Geschöpfe (Röm 8,18-23). Dabei ist bedeutsam, dass Paulus in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Menschen den Geist als Angeld der Erlösung schon haben (Röm 8,23). D.h. u.a., dass wir Menschen an der Verbesserung der Lebensbedingungen der Tiere schon heute etwas tun können. Der berühmte Theologe Karl Barth schrieb dazu in seiner „Kirchlichen Dogmatik“: „Wo immer der Mensch seine Herrschaft über das Tier ausübt, und um wie viel mehr über jeder Jagdhütte, über jedem Schlachthaus, über jedem Vivisektionsraum müssten in feurigen Lettern die Worte des Paulus Röm 8,19f sichtbar sein von jenem ‚sehnsüchtigen Harren’ der Kreatur ... Gut ist in diesem ganzen Bereich das, was sich vor diesen Worten verantworten lässt – böse, was sich ihnen gegenüber nicht verantworten lässt.“[7]  Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass durch überhöhten Fleischkonsum riesige Nahrungsmittel verloren gehen und das Welternährungsproblem seiner Lösung ein gutes Stück näher kommen würde, wenn der Fleischkonsum sich spürbar verringern würde. Um eine tierische Kalorie zu erzeugen, braucht man nämlich im Durchschnitt sieben pflanzliche Kalorien, d.h. sechs von sieben Kalorien gehen über den Umweg des Tieres verloren.[8] „Das Getreide, das weltweit als Viehfutter verwendet wird, würde, wenn es als menschliche Nahrung eingesetzt wäre, rund 2,5 Milliarden Menschen auf der Erde sattmachen.“[9] - Es geht nicht darum, Unmögliches zu fordern. Aber es geht darum, ob Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben den hohen Fleischkonsum unserer Tage nicht in Frage stellen sollte. Es geht darum, ob man jeden Tag Fleisch und Wurst auf dem Tisch haben muss. Und es geht darum, ob die Albert Schweitzer Freunde hier nicht mit gutem Beispiel voran gehen sollten, nicht nur, aber auch in Lambarene. Denn Lambarene wurde und wird von manchen als Modell dessen gesehen, wie die Welt sein könnte und sollte.[10]



[1] Vgl. Gotthard M. Teutsch, Mensch und Tier. Lexikon der Tierschtuzethik, Göttingen 1987, S. 47. Teutsch zitiert Schweitzers Aussage aus dem erwähnten, m.W. bis heute nicht veröffentlichten Brief mit Erlaubnis des Albert-Schweitzer-Archivs in Günsbach vom 11.3.1982.

[2] Vgl. Ali Silver, Ein Kind des Lichts, Prag 1980; in: Makoto Abé, Akewa: Ali Silvers Weg für Albert Schweitzers Werk, Tübingen 1984, 126 – 131, hier: 128; Teutsch, S. 47 und James Bentley, Albert Schweitzer. Eine Biographie, o.O. 2001, S. 217.

[3] Claus Westermann, Genesis 1-11, BK I/1, Neukirchen-Vluyn 19833, S. 223.

[4] Vgl. Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, Neukirchen-Vluyn 19876, S. 202.205.

[5] Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979, S. 98. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1854.

[6] Thoreau, S.213f.

[7] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 1951, S. 404. Barth übernahm in diesem Band Schweitzers Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“, indem er ihn als Überschrift für einen Abschnitt verwendete (S. 366).

[8] Vgl. Rudolf H. Strahm, Warum sie so arm sind. Arbeitsbuch zur Entwicklung der Unterentwicklung in der Dritten Welt mit Schaubildern und Kommentaren, Wuppertal 19928, S. 46f.

[9] Strahm, S.45.

[10] Vgl. Ali Silver, Der Friede beginnt in uns selber, Taiwan 1979; in:. Makoto Abé, Akewa: Ali Silvers Weg für Albert Schweitzers Werk, Tübingen 1984, 123 – 126, hier: 125 und Jean Pierhal, in: Albert Schweitzer 1875 –1965. Arbeitsblätter hg. v. DHV, S. 21