Ich liebe die Kirche
Bill Hybels, Einführung, in: Lynne und Bill Hybels, Ins Kino gegangen und Gott getroffen. Die Geschichte von Willow Creek, Wiesbaden 1996, 13-18:
„Vor einigen Jahren rief ich das Management-Team von Willow Creek zu einem eintägigen Treffen zusammen, um unser weiteres Vorgehen zu planen. Wir hatten einen minutiös ausgearbeiteten Tagesplan vor uns und dazu externe Berater eingeladen. Wir hatten uns für diesen Tag ein ehrgeiziges, aber durchaus erreichbares Ziel gesteckt; es ging um viel. Bald nach Beginn des Treffens erhielt ich eine dieser unerklärlichen Eingebungen durch den Heiligen Geist: Vergiss den Plan. Schau in die Runde. Konzentriere dich auf die Menschen. Ich schickte die Berater aus dem Raum und sagte: ‚Lasst uns einen Moment innehalten. Wir können uns später wieder mit dem Tagesplan beschäftigen. Was passiert gerade so in eurem Leben?‘
Es kam zu einem angenehmen Austausch über Persönliches und das Familienleben – bis zu dem Moment, als ein Mitglied des Teams offen erzählte, welche persönliche Tragödie er im Moment durchmachte. Die anderen wussten davon nichts, aber hinter seinem coolen Image verbargen sich Schmerz, Angst und Einsamkeit. Die Geschichte kam langsam und stoßweise, mit Stocken und immer wieder neuen Ansätzen, unter Tränen – und schließlich war alles gesagt, seine Energie verbraucht, seine Worte erschöpft.
Wir wussten alle, dass wir eigentlich mit der Tagesordnung weitermachen mussten; die Zeit verging. Aber wir saßen einfach da. Schließlich sagte einer: ‚Es tut mir Leid, aber für mich ist die Sache damit nicht getan. Ich habe das Gefühl, dass ich versuche zu schalten, ohne die Kupplung zu treten und es geht nicht. Ich würde gerne darüber beten, was nun geschehen soll.‘ Vor der verschlossenen Tür gingen unsere hochbezahlten Berater in der Halle hin und her und wir beteten in der Runde und baten Gott, unseren Bruder in seiner Not zu stärken und ihm zu helfen.
Später am Abend dachte ich mir, dass wir uns den ganzen Tag über die Köpfe zerbrochen hatten, um herauszufinden, wie wir diese Gemeinde leiten sollten, aber das Wichtigste an diesem Tag waren die zwei Stunden und fünfzehn Minuten gewesen, in denen wir wirklich Kirche waren.
Darum soll es in diesem Buch gehen: Kirche zu sein. Es geht um Menschen, die zusammenkommen, um für jeden anderen in dieser Gemeinschaft Christus zu sein. Vernetzt. Verwundbar. Von sich selbst hergebend.
Ich weiß nicht, wieviele Leute mir glauben, wenn ich sage, dass ich nie vorhatte, eine große Gemeinde zu bauen. Ich sage das nicht sorglos oder naiv. Ich weiß, dass jedes meiner Motive bis zu einem gewissen Grad gemischt ist. Ich weiß, dass ich nicht immun gegenüber der Sünde des Stolzes und des Eigenlobs bin. Ich habe einen unbewussten Hang, erfolgreich sein zu müssen und mich selbst zu beweisen. Erst in den letzten Jahren habe ich angefangen, das zu verstehen.
Trotzdem kann ich aufrichtig sagen, dass es nie ein bewusster Wunsch meines Herzens war, eine große Gemeinde zu bauen. Ich habe mich nie darum bemüht zu sehen, wie innovativ ich mit Theater oder Musik sein kann oder wie ich hinter die Mechanismen unserer Gesellschaft kommen kann. Es gab nur eine paar Gedanken, die einfach zu einem unglaublich wertvollen Ergebnis geführt haben. Was mich vor zwanzig Jahren motiviert hat und was mich heute motiviert, ist die unvergleichlich wertvolle Erfahrung, erlöste Menschen zu sehen, die Kirche werden. Füreinander. Ich gewinne jedes Mal neue Energie, wenn ich Menschen sehe, die früher in wirklicher Dunkelheit lebten und jetzt Liebe geben und Liebe bekommen, die miteinander gemeinsam durch Tiefen gehen, einander befreien und einander in ihren äußerlichen und geistliche Nöten helfen.
Wenn es in der Geschichte jemals eine Zeit gab, in der der Dienst einer lebendigen Gemeinde dringend gebraucht wurde, dann ist es die unsrige. Obwohl die Zahl der traditionellen Gottesdienstbesucher in den Jahrzehnten seit 1960 drastisch zurückgegangen ist, lässt das zunehmende Interesse an religiösen Dingen, das sich in unserem Land ausbreitet, darauf schließen, dass viele Menschen an einer geistlichen Leere leiden. Meinungsforscher schreiben dieses wachsende Interesse vor allem der zunehmenden Ernüchterung über den modernen, materialistischen Lebensstil zu. In den verborgenen Winkeln ihres Herzens kommen viele Menschen zu dem Schluss, dass es mehr geben muss.
Ein anderer Grund für diese geistliche Suche ist der immer häufigere Zusammenbruch von Beziehungen. Ehen scheitern, Familien brechen auseinander, Freundschaften lösen sich auf. Wenn der Grad des zwischenmenschlichen Vertrauens auf ein verschwindend geringes Maß sinkt, fangen manche Menschen an aufzuschauen. Kann man Gott trauen? fragen sie sich. Und kann er mir irgendwie helfen, meine Ehe, meine Familie und meine Freundschaften wieder zusammenzubringen?
Dieses Interesse an geistlichen Dingen wird auch durch das zunehmende Bewusstsein verursacht, dass Sozialhelfer, staatliche Programme und öffentliche Gelder zur Förderung von Bildungsmaßnahmen nicht all die Übel ausrotten werden, die unsere Gesellschaft bedrohen: Alkohol- und Drogenmissbrauch, Pornographie, häusliche Gewalt und eine kontinuierlich ansteigende Kriminalitätsrate. Die Versuchungen, denen junge Menschen ausgesetzt sind, sind größer als je zuvor; Gelegenheitssex, Alkohol und Drogen gehören zum High-School-Alltag dazu und werden akzeptiert. Viele Männer und Frauen der geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt selbst schon Eltern sind, sehen, wie ihre Kinder nach den moralischen Maßstäben der sechziger Jahre leben, die sie selbst einst gefeiert haben und wünschen sich, die Geschichte zurückdrehen zu können. In einer Zeit, in der die Unterhaltungsmedien permanent antimoralische Botschaften verkünden, müssen sich Eltern in anderen Bereichen nach einer gesünderen Perspektive umschauen.
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In einer Gesellschaft, die zunehmend weniger funktioniert, werden sich Menschen immer deutlicher ihrer emotionalen Wunden, ihrer Einsamkeit und ihrer Hilfsbedürftigkeit bewusst. Opfer von Kindesmissbrauch brauchen einen sicheren Ort, um wieder heil zu werden. Menschen, die eine Scheidung hinter sich haben, brauchen Verständnis und Führung. Alleinerziehende Eltern brauchen emotionale Unterstützung und tatkräftige Hilfe. Auch wenn viele dieser Menschen das Bild eines fernen Gottes und die unpersönliche Kirche ihrer Kindheit ablehnen, sehnen sie sich doch nach etwas, was sie eine höhere Macht nennen, die sie wieder herstellen soll und nach einer liebenden „Familie“, zu der sie dazugehören können. Können sie – ich denke, sie müssen – sich dem Gott der Bibel zuwenden? Können sie in Gottes Kirche das finden, wonach sie sich sehnen?
Zugegeben, viele dieser geistlich suchenden Menschen haben beschlossen, ihre geistlichen Fragen nicht an die Kirche zu stellen. … Warum, frage ich mich, sind so viele Menschen heute so überzeugt, dass die wahren geistlichen Antworten nur außerhalb der Kirche zu finden sind? Liegt es daran, dass sie Antworten suchen, die sie selbst in den Mittelpunkt stellen anstatt Gott? Oder liegt es daran, dass sie von einer Kirche enttäuscht sind, die zu viele Jahre nur mit ihrer Identität und ihren Traditionen beschäftigt war, statt sich um die Bedürfnisse der Menschen zu kümmern?
Als ich vor vielen Jahren die Statistiken über zunehmendes geistliches Interesse las, wusste ich, dass es wirklich da war. Als junger Erwachsener war ich viel mit Leuten zusammen, die geistliche Fragen hatten: Was ist das Ziel des Lebens? Was kommt nach dem Tod? Ist Jesus mehr als ein Mythos? Wie kann ich moralisch richtige Entscheidungen treffen? Gibt es eine absolute Wahrheit? Funktioniert Gebet wirklich? Hat Leiden Sinn? Einige dachten, dass Christsein eine ‚gute Idee‘ war, aber sie wussten nicht mehr darüber. Andere merkten, dass ihnen ihr Leben entglitt und sie fragten sich, ob die Bibel ihnen Weisheit und Hilfe bieten könnte. Sie hatten viele Fragen, aber nur wenige Antworten.
Im Jahr 1975 fingen eine Gruppe von Freunden und ich an, diese Leute ‚Kirchendistanzierte‘ zu nennen und wir beschlossen, eine Gemeinde zu gründen, die diese Menschen erreichen kann – eine Gemeinde, die ihre Fragen beantworten würde, die auf ihre Bedürfnisse eingehen, ihnen den Weg zu Jesus zeigen und ihnen hier auf der Erde einen Vorgeschmack von Gottes Reich geben würde. Wir wollten Kirche für Menschen sein, die dachten, dass Kirche für ihr Leben keine Bedeutung habe, die aber diese Kirche so verzweifelt brauchten.
Was 1975 galt, gilt heute genauso. Menschen brauchen die Kirche – nicht diese leblose Institution, die oft als Kirche bezeichnet wird, sondern die wahre Kirche, die Kirche aus der Apostelgeschichte, Kapitel 2. Nichts anderes wird die zunehmende Individualisierung unseres Lebens und den Kurs, den unser Land eingeschlagen hat, ändern können. Wir brauchen eine echte Veränderung unseres Herzens, die unsere Art, Beziehungen zu leben, unseren Umgang mit sozialer Ungerechtigkeit, unsere Ausbeutung der Erde, unseren Umgang mit den Schwachen und dem ungeborenen Leben verändert.
Bei manchen Leuten ist Willow Creek in erster Linie für den ‚avantgardistischen Laser-Zeitalter-Stil‘ ihrer vorevangelistischen Veranstaltungen bekannt, in denen wir der Kreativität unserer Musik- und Theaterteams freien Lauf lassen. Die Wahrheit ist, dass ich Mühe mit dem habe, was es kostet, solche Veranstaltungen auf die Beine zu stellen. Ich ringe mit dem Aufwand an Geld und Zeit, den sie fordern. Ich hinterfrage den persönlichen Tribut, den sie von den Programmgestaltern, den Mitarbeitern und von mir selbst fordern. Ich habe Angst vor den Briefen der Kritiker, die mir vorwerfen, ‚Programme abzuspulen‘ und meinen, ich solle doch einfach ‚nur predigen.‘
Warum machen wir das Ganze also? Weil irgendein Mann oder eine Frau, die in Gefahr sind, verloren zu gehen, für Gott viel wichtiger sind, als wir jemals verstehen können. Weil sie am Arm eines unserer Christen kommen und eine erste Ahnung davon bekommen könnten, was Christsein bedeutet. Und dieser erste Anstoß setzt vielleicht den ‚Dominoeffekt‘ in Gang: Eines Tages wird diese Person verstehen, wer Christus ist, dann eine Beziehung zu ihm aufbauen und schließlich in einem kleinen Kreis von Christen erleben, was Kirche ist.
Darum geht es in diesem Buch. Es geht nicht darum, wie man große Gemeinden baut. Es geht nicht darum, wie man hochtechnisierte Programme gestaltet. Es geht genau so wenig um Macht, Kraft und Stärke. Sehen Sie, ich bin nicht sicher, ob man biblische Gemeinschaft erleben kann, ohne persönliche Schwäche zu zeigen. Als ich jünger war, fest im Sattel eines kräftigen ‚Hengstes‘ saß, vorwärts stürmte und alle Hindernisse für das Reich Gottes niederrannte, glaubte ich das nicht. Ich hatte damals power und war voller Durchsetzungskraft, aber ich wusste nicht viel darüber, wie man Liebe weitergibt und empfängt. Ich lernte das erst, als mein ‚Hengst‘ anfing zu straucheln und die Hindernisse allmählich unüberwindlich wurden.
Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Ich war der Mann, den ich am Anfang dieses Kapitels beschrieben habe – der Mann mit dem gebrochenen Herzen in der Planungssitzung. Ich war der Mann, der von den anderen Menschen Stärkung brauchte, der Mann, der im Kreis saß und durch Menschen etwas erhielt, was sich wie eine direkte Infusion göttlicher Liebe anfühlte. Wenn ich das Buch meines Lebens noch einmal neu schreiben könnte, würde ich mehr solcher Szenen einfügen und weniger Szenen mit vorwärtsstürmenden Hengsten.
Wenn Ihr Ziel also ist, eine große Gemeinde zu bauen oder zu lernen, wie man die modernsten Programme gestalten könnte, dann lesen Sie dieses Buch bitte nicht. Und wenn Sie voller power und so richtig stark sind, lesen Sie dieses Buch bitte auch nicht.
Wenn Sie sich aber danach sehnen, Teil einer Gemeinde zu sein, die sich wirklich darum bemüht, Kirche zu sein, dann lade ich Sie dazu ein, die Seiten dieses Buches zu lesen. Sie werden nicht alle Antworten bekommen, die Sie brauchen. Aber Sie werden – von meiner Frau Lynne geschrieben, die auf dem gesamten Weg einen Platz in der ersten Reihe hatte – die Geschichte einiger Menschen finden, die genug von der wahren Kirche erlebt haben, um über beide Ohren in sie verliebt zu sein. In der zweiten Hälfte dieses Buches werden Sie die Vision, die Werte und die Strategien kennenlernen, die mein Herz in mehr als zwei Jahrzehnten im Dienst schneller schlagen ließen.
Falls diese einführenden Seiten noch irgendeinen Zweifel in Ihnen zurücklassen, will ich es noch einmal ganz klar sagen: Ich liebe die Kirche. Ich bin überzeugt, dass sie die Hoffnung für unsere Welt ist. Ich denke, ich verstehe, warum Jesus sie seine Braut nannte. Und ich danke Gott demütig jeden Tag aufs neue, dass er mich einen Teil von ihr sein lässt.“